Kapitel V

Inzwischen hetzte Jenny zurück durch die Höhle.
Hatte sie anfangs noch gebannt zum Raumschiff geblickt und das Öffnen der Laderampe verfolgt, so versteckte sie sich doch schnell wieder hinter dem Felsblock, als sie eine Bewegung im Inneren des Schiffes wahrnahm. Und dann war dort dieser Mann herausgetreten, der sehr menschlich wirkte, nur größer und breiter, als sie je einen gesehen hatte.
Neugierig streckte sie den Kopf weiter hervor. Er musste sie auch gesehen haben, denn er schaute genau in ihre Richtung. Er wirkte so friedlich, als er langsam die Hände hob. Zögernd stand sie auf. Und dann plötzlich dieses Blitzgewitter! Ob er das mit seinen Händen erzeugt hatte? Jedenfalls war sie zurück in die Höhle gestürzt und blind in die Säulenhalle gelaufen. Fast hätte sie ihr abgelegtes Seil nicht gefunden. Hastig wickelte sie es auf.
Etwa in der Mitte des Saales versteckte sie sich hinter einer Säule und starrte in die Richtung, aus der sie gekommen war. Nichts passierte. Ob sie noch eimal nachsehen sollte? Lieber doch nicht. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr auch, dass sie sich so schnell wie möglich zum vereinbarten Treffpunkt begeben sollte, um Toove und die anderen nicht zu verpassen.
Sie wickelte den Rest des Seiles auf, verstaute es im Rucksack und lief in Richtung Steilwand. Da es leicht bergab ging, war sie schneller als auf dem Hinweg. An der Steilwand angekommen, schlang sie ihr Seil um einen großen Felsblock, seilte sich ab und zog das Seil runter. Nachdem sie es weggestopft hatte, waren es nur noch wenige Schritte bis zum Stiefelstein. Völlig abgehetzt kam sie am Treffpunkt an. Niemand war da, obwohl sie die Zeit doch nur um fünf Minuten überschritten hatte.
Schweratmend sank sie auf die Stiefelspitze. Erst jetzt merkte sie, dass ihr Magen knurrte. Sie packte einen Nahrungsriegel aus und kaute lustlos darauf herum.
Vielleicht haben die anderen schon gewartet, überlegte Jenny, und sind umgekehrt, weil ich nicht da war.Aber das wollte sie nicht recht glauben. Toove, Maik und Sebastian hätten doch bestimmt ein paar Minuten länger gewartet. Oder die Gruppe hatte sich verspätet. Sebastian machte nicht gerade den Eindruck, als wäre er sehr leistungsfähig. Na gut, dachte Jenny, zehn Minuten warte ich noch, dann mache ich mich allein auf den Weg.
Gerade als sie ihre Essensreste wieder einpackte, hörte sie entfernte Stimmen. Erleichtert lief sie ihnen entgegen. Toove war die erste, die Jenny sah, gleich dahinter Maik. Sebastian keuchte weit hinten heran.
"Hast es ja geschafft", sagte Toove, als sie sich gegenüberstanden, und fragte dann: "Wartest du schon lange?"
"Hm", machte Jenny nur. Sie wußte nicht recht, was sie sagen sollte. Konnte sie erzählen, was sie erlebt hatte, oder war es besser zu schweigen? Zu gern hätte sie ihr Geheimnis mit jemandem geteilt, wusste aber noch nicht, ob sie den neuen Freunden auch trauen konnte. Was würde passieren, wenn die Erwachsenen von dem Weg zum Schiff erfuhren? Sie würden die Höhle sperren, und keiner käme mehr zum Raumschiff.
Sie merkte, dass die anderen mit ihrer Antwort nicht recht zufrieden waren und auf eine Fortsetzung warteten.
"Na ja, ist auch egal", sagte Maik schließlich, "auf alle Fälle müssen wir ganz schnell von hier verschwinden. Es ist nämlich eine Menge passiert, seit du in die Höhle gegangen bist."
Jenny sah ihn fragend an.
"Sag mal, du hast keine Ahnung, wovon ich spreche?", fragte Maik sie.
Jenny schüttelte nur den Kopf. Sebastian, der bis jetzt erschöpft und schwer atmend im Hintergrund gestanden hatte, schob sich vor. "Ich glaube fast", sagte er, " du hast den planetaren Notrufkanal noch nicht in deine Komeinheit programmiert."
"Planetaren Notrufkanal?", Jenny verstand überhaupt nichts mehr.
"Schluß jetzt", Toove übernahm wieder die Führung. "Darüber können wir uns auf dem Rückweg unterhalten. Jetzt müssen wir erst einmal weg hier."
Und so erfuhr Jenny während des hastigen Rückweges, dass über den planetaren Notrufkanal die Nachricht gekommen war, das fremde Raumschiff sei in der Nähe der Fuller - Höhle gelandet. Das gesamte Gelände und die Höhle selbst sollten geräumt werden. Jenny nahm es schweigend zur Kenntnis.
"Scheint dich nicht weiter zu überraschen", sagte Maik staunend. Jenny zuckte nur mit den Schultern und tat so, als müsse sie ihren Rucksack zurechtrücken.
Immer wieder mussten sie eine Pause machen, damit Sebastian, der ständig zurückblieb, aufschließen konnte. Und so hörte Jenny etappenweise, was sich zugetragen hatte. In einer der Zwangspausen erzählte ihr Toove, dass der Oberste Rat der Kolonie beschlossen hatte zum eigenen Schutz und zum Schutz der Fremden vor Neugierigen, einen Energieschirm über das Raumschiff zu legen.
Da hatte Jenny während des nächsten Marschstückes etwas zum Nachdenken. Also war es nicht der fremde Mann gewesen, der die Blitze ausgelöst hatte. Der Energieschirm wurde aktiviert. Sicherlich war er genauso erschrocken wie sie. Womöglich hatte er sogar gedacht, dass sie das gemacht hatte. Aber warum konnte sie durch die Höhle zurücklaufen, wo doch die Energiesperre das Gelände eingrenzte? Das war doch wohl nur möglich, wenn die Sperre nur auf der Planetenoberfläche bestand und nicht bis zur Höhle hinunterreichte. Ganz zufällig hatte sie also ein Schlupfloch entdeckt. Das würde es ihr und ihren neuen Freunden vielleicht ermöglichen, das fremde Raumschiff wieder heimlich zu beobachten. Aber genausogut konnten doch auch die Fremden diese Möglichkeit entdecken und unerwartet die Kolonie überfallen. Ach nein, das glaubte sie nun doch nicht. Der Mann hatte so friedlich ausgesehen.
"Wie kommt es eigentlich", fragte Maik sie in der nächsten Pause, nachdem sie die Schrägwand überwunden hatten, "dass du so gut klettern kannst?"
Jenny erzählte ihnen von ihrem Bergsteigerunterricht auf Tarox. Da hatten die anderen auch mal was zum Staunen.
So kamen sie nach und nach zum Ausgang der Höhle. Inzwischen war es schon nach achtzehn Uhr. Jeder zog sich in eine andere Ecke des Eingangsbereiches zurück und kontaktete seine Eltern, Jenny ihre Tante. Über jeden ging wegen der Verspätung ein gewaltiges Donnerwetter nieder, was an den schuldbewußten Gesichtern unschwer zu erkennen war.
"So, das hätten wir hinter uns", sagte Toove, als sie sich wieder zusammenfanden. "Was haltet ihr davon", fragte sie dann und sah in die Runde, "wenn wir zu mir gehen und uns gemeinsam ansehen, was es Neues über das Raumschiff gibt. Dann können wir auch gleich überlegen, was wir morgen machen. Es ist schulfrei, hat meine Mutter gesagt."
Sie informierten ihre Eltern und machten sich dann auf den Weg zu Toove. Unterwegs stellten sie allerhand Mutmaßungen über die Absichten der Fremden an. Nur Jenny hielt sich dabei zurückt.
"Hast du gar keine Meinung dazu?", wollte Toove schließlich von ihr wissen.
"Hm", machte Jenny bloß wieder unbestimmt. Und dann sagte sie noch: "Sie sind bestimmt friedlich. Vielleicht brauchen sie unsere Hilfe."
"Oh, Fräulein Hilfsbereit persönlich hat gesprochen", verspottete Sebastian Jenny. Die musterte ihn nur ärgerlich, sagte aber nichts mehr.
Tooves Mutter empfing sie alle mit einem strafenden Blick. "Ah, unsere Höhlenforscher", sagte sie dann. "schön, dass ihr euch entschlossen habt, nach Hause zu kommen." Die verlegenen Gesichter der Freunde stimmten sie jedoch wieder versöhnlich. "Na kommt schon rein ihr Helden. In fünf Minuten kommt eine Sondersendung über das Raumschiff."
Sie hatten gerade Platz vor dem Bildschirm genommen, als das Logo der Kolonie erschien und die Sendung angekündigt wurde.
"Wie Sie sicher schon gehört haben", begann der Sprecher, "ist das unbekannte Raumschiff um 15.00 Uhr auf Nanis gelandet." Es wurden Bilder gezeigt, wie das Schiff den Orbit verließ und in die Atmosphäre eindrang. "Bis zu diesem Zeitpunkt", fuhr der Sprecher fort, "hatten wir noch keinen Kontakt zu den Fremden. Aus diesem Grund haben wir um 15.45 Uhr von einem unserer orbitalen Satelliten aus einen Energieschirm über das Raumschiff gelegt. Die Fremden haben bisher nicht den Versuch unternommen, die Sperre zu durchbrechen. Also nehmen wir an, dass es für sie nicht möglich ist. Gegen 16.00 Uhr gelang ein erster Kontakt. Von den Fremden wurde eine Signalfolge ausgesendet, die von uns unverzüglich als Antwort zurückgeschickt wurde. Nachdem wir eine interstellare Komeinheit dazwischengeschaltet hatten, war auch eine verbale Verständigung möglich.Der erste und zweite Vorsitzende des Obersten Rates", ihre Gesichter erschienen auf dem Bildschirm, " haben mit den Verhandlungen begonnen. Der Verhandlungsführer der Fremden nennt sich selbst Kommandant A und ist außerordentlich menschenähnlich."
Das Gesicht des Fremden wurde eingeblendet. Es war auffallend blass. Die Augen wirkten irgendwie leblos. Seine tiefschwarzen, zurückgekämmten Haare verstärkten noch den Eindruck der Strenge. Jenny beugte sich vor. War er es oder war er es nicht? Eine gewisse Ähnlichkeit gab es schon, aber bei der großen Entfernung dort draußen und bei ihrer Aufregung war sie sich nicht sicher.
"Die Verhandlungen sind noch geheim", setzte der Sprecher seinen Bericht fort, "Wie wir aber bisher erfahren haben, befinden sich die Fremden auf der Flucht vor einer Rasse, die sie Plak nennen. Diese Plak sollen die Heimatwelt der Fremden überfallen haben. Auf dem Schiff befinden sich nach Aussage des Kommandanten außer ihm noch zwei aktive Besatzungsmitglieder. Außerdem sollen noch fünfzig weitere Venti, wie er seine Rasse nennt, im Tiefschlaf liegen. Der Kommandant hat für sich und seine Besatzung um Asyl gebeten. Die Entscheidung des Obersten Rates zu diesem Antrag steht noch aus. Wie es bisher aussieht, besteht die Gefahr, dass wir in einen interstellaren Krieg hineingezogen werden. Wie wir auch wissen, hat der Oberste Rat bereits um Unterstützung bei der Raumflotte gebeten. Der Schlachtkreuzer, der uns am nächsten ist, braucht jedoch noch drei Tage, bis er uns erreicht."
Dann folgten Interviews mit verschiedenen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Tooves Mutter wollte noch weiter zuhören.
Die Freunde gingen hinaus und setzten sich auf die Stufen des Hauses. Jeder dachte für sich über das Gehörte und Erlebte nach.
Als Toove mit ihren Gedanken bis zu einem bestimmten Punkt gekommen war, fragte sie Jenny völlig unerwartet: "Warum hast du eigentlich nicht auf unsere Komrufe geantwortet, als du in der Höhle warst?"
"Mich hat keiner gerufen", antwortete Jenny.
"Doch wir haben dich gerufen, als die Nachricht über den Notrufsender kam", widersprach Maik.
Jenny löste ihre Komeinheit vom Gürtel und untersuchte sie. "Die Energiezelle ist leer", stellte sie fest.
"Na toll!", rief Sebastian entrüstet. "Da konntest du uns ja nicht hören. Und wir sind wie die Verrückten durch die Höhle gehetzt, nachdem wir um 15.00 Uhr die Nachricht von der Landung empfangen haben.Wir dachten, dir wäre was passiert."
Toove stieß Sebastian in den Rücken, um ihn zum Schweigen zu bringen. Aber es war schon zu spät.
"Warum seid ihr erst um 15.00 Uhr los?", fragte Jenny erstaunt. "Ich dachte, wir wollten uns in der Höhle treffen? Ihr wolltet doch auf einen anderen Weg zum Treffpunkt", wandte sie sich an Toove, die dem Blick auswich.
Jenny verstand: "Ach so ist das. Ihr wolltet euch gar nicht mit mir treffen, stimmt's? Ich sollte allein hin und zurück. Sollte das die Mutprobe sein?" Sie stand auf um zu gehen. Das waren ja tolle Freunde, die sie sich da ausgesucht hatte.
Toove seufzte: "Nun setz dich schon wieder hin. Du hast ja Recht", gab sie dann zu. "Das war nicht richtig von uns. Aber da ist etwas in der Höhle, das wir nicht zeigen wollten."
Jenny setzte sich neugierig geworden wieder auf die Stufe. "Ja", sagte sie erwartungsvoll.
"Wir haben da was entdeckt, das heißt Sebastian hat dort vor ein paar Wochen etwas entdeckt, eine Kammer mit Bildern aus einer vormenschlichen Zeit." Toove sah Jenny an, wie würde sie reagieren?
Jenny sagte gar nichts, sie überlegte.
"Ich habe auch etwas entdeckt", brach sie dann das Schweigen und sah in die Runde. Jetzt schauten die anderen sie erwartungsvoll an.
"Ich habe das Raumschiff gesehen", fuhr sie fort. Die anderen entspannten sich.
"Tolle Neuigkeit", spöttelte Sebastian, "das haben wir auch, vorhin, auf dem Bildschirm."
"Ich habe es in Wirklichkeit gesehen", gab Jenny zurück.
"Das ist unmöglich", mischte sich Maik ein, "durch den Energieschirm kommt keiner durch. Außerdem warst du in der Höhle, da kannst du gar nichts gesehen haben."
"Ich war schon sehr früh am Treffpunkt und habe mich gelangweilt. Also bin ich weiter in die Höhle geklettert, und ...."
"Schon erwischt", rief Sebastian dazwischen, " hinter der nächsten Ecke ist Schluss, da geht's nicht weiter."
"Nun lasst sie doch endlich mal ausreden", brachte Toove die Freunde zum Schweigen.
"Schon vergessen, dass ich eine Bergsteigerausbildung habe?", fragte Jenny selbstbewusst, "Ich bin dann die Wand hoch. Da war immer dieser Luftzug. Also musste es da oben noch einen zweiten Ausgang geben. Dann kam ich noch durch eine Säulenhalle und schließlich fand ich den zweiten Ausgang. Und als ich da rausschaue, steht keine hundert Meter von mir entfernt das Raumschiff." Jenny machte eine Pause. Die anderen starrten sie an. Damit hatte keiner gerechnet.
"Na los, erzähl deine Märchen schon weiter", forderte Sebastian sie auf.
Jenny achtete gar nicht auf ihn. "Plötzlich ging die Luke auf und jemand kam raus. Sah fast so aus, wie der Mann in den Nachrichten, sehr groß und sehr kräftig. Er hat mich angesehen. Ich hatte gar keine Angst, denn er sah ganz friedlich aus. Und dann kamen diese Blitze. Jetzt weiß ich, dass es der Energieschirm war, aber dort dachte ich, er hätte das gemacht und bin zurückgerannt. Den Rest kennt ihr. Wir haben uns dann getroffen."
"Die Energiespere geht also nicht sehr tief in den Boden, sonst wäre der Gang abgeschnitten und du hättest nicht zurückgekonnt", stellte Toove nachdenklich fest. "Das bedeutet, dass wir heimlich zu dem Raumschiff können, um es zu beobachten und keiner weiß davon. Das ist ja toll!", rief sie dann.
"Da sollten wir gleich morgen hin", begeisterte sich auch Maik.
"Klar, und die Fremden stehen schon im Gang und erwarten uns mit Blumen und Kuchen oder vielleicht auch mit einem Knüppel", warf Sebastian ein.
"Kannst du nicht mal positiv denken?", wieß Maik ihn zurecht.
"Also entweder du hälst jetzt endlich die Klappe und kommst mit oder du verschwindest. Dein ewiges Gemecker nervt nämlich gewaltig!", fauchte Toove Sebastian an.
Der murmelte noch etwas Unverständliches vor sich hin, blieb aber sitzen, weil auch er neugierig war. Sie verabredeten sich noch für den nächsten Vormittag um 9.00 Uhr und dann machte sich jeder auf seinen Heimweg.