Leseprobe 1 aus "Der Lab'san'dar"

[ … Sie hörte Schritte hinter ihrem Rücken und fuhr herum. Der Reptil-Mensch schlenderte mit aufrechtem Gang auf sie zu. Er kam Stück für Stück näher und drängte die junge Frau an den Abgrund. Ihre Fersen ragten bereits über den Mauervorsprung. Es bot sich ihr keine Möglichkeit zur Flucht und der Selbsterhaltungstrieb hinderte sie an einer Selbstzerstörung. Verflixte Solitude! Wieso war sie nicht stark genug morbide Verzweiflung heraufzubeschwören?
Dann trat der Jäger in ihre Aura ein. Er durchbrach den Anstandsabstand und schob seine Fußspitzen an die ihren. Instinktiv versteifte sich ihr Körper, als hätte sie eine Eisenstange verschluckt. Konzentriert hielt sie die Balance. Ein befremdlicher Geruch von getrocknetem Lehm und Schweiß umhüllte ihn. Sie ließ ihren Blick über die Landschaft seines Körpers schweifen und betrachtete nervös einige Schuppen. Die Muskelstränge seines Oberkörpers stachen gegen die gespannte Haut. Pulsierende Adern sandten Furcht einflößend Signale aus.
Der Kerl braucht mich nur mit einer Fingerkuppe zu berühren und ich schwebe wie ein Blatt im Herbst zu Boden, schoss es ihr durch den Kopf.
Sie musste ihren Hinterkopf auf den Nacken legen, um ihm in die Augen sehen zu können, was ihre Balance erschütterte. Trotz seiner physischen Überlegenheit hielt sie dem stahlharten Blick des Ungetüms stand. Die Iris' seiner Pupillen zeigten sich in Echsenaugengelb, doch erdballrund, wie bei Menschen. Seine Haut schimmerte blass, wie die ihre, aber war bei weitem nicht so trocken und aufgerissen. Etwas Essbares und Wasser aufzutreiben in dieser Zeit des Nachglühens erwies sich als äußerst schwierig.
Weshalb sah sein Körper gesund aus? Woher kamen die vereinzelten Schuppen auf seiner Haut und was zur Hölle wollte er von ihr? Er sah nicht wirklich aus, wie ein Mutant.
Blitzschnell zog sie das Messer aus dem Schaft und zielte in Richtung seines Halses. Der Pegel ihres Blutdurstes befand sich im negativen Bereich der Skala. Ihr Bedarf nach Konfrontation war verschwindend gering. Doch Sterben wollte sie ebenfalls nicht. Ihre halbherzige Attacke wurde federleicht abgefangen. Der Jäger umkrallte ihre knochige Hand mit seiner wohlgenährten Pranke. Durch die Aktionen geriet sie ins Schwanken. Ihre Fersen fühlten keinen Widerstand. Panik verwirrte ihre Gedanken. Sie spürte bereits den Luftzug, der ihren Fall ins Nirwana begleiten würde. Ihr Körper bebte. Ihre Hände fuchtelten wild in der Luft herum. Der Drang sich einfach nach hinten fallen zu lassen wuchs. Es war wie ein fataler Sog. "Solitude!”
Der Aufschrei des fremdartigen Wesens rief sie zurück in die Gegenwart. Seine Stimme klang wie entferntes Donnergrollen. Ihr Bewusstsein sammelte sich und sie blickte ihn erstarrt an. Noch immer hielt er ihre Hand mit dem Messer in der Luft. Nur seine Penetration hinderte sie daran rückwärts wie ein Stein vom Himmel zu fallen.
Er bemerkte ihre Irritation und schwenkte seinen Kopf in Richtung ihres Unterarms. Seine Gesichtszüge verrieten keinerlei Gefühlsregung. Doch hinter seinen Augen meinte sie einen Funken Neugier zu erhaschen. Sie folgte seiner Bewegung und musste unweigerlich grinsen. Blutkrusten zierten ihren Arm. Verschwommen waren die Buchstaben ‚S-o-l-i-t-u-d-e' zu erkennen.
"Ein Akt der Verzweiflung!”
Wieso spreche ich mit ihm, rügte sie sich. Er will mich niederstrecken und ich mache Konversation. Absurd! Sie versuchte die Hand, in der das Messer lag, frei zu bekommen, doch er hielt ihre Handgelenk umkrallt. Unerwartet führte er die Klinge zu seinem Hals. Die Haut auf seiner Nase legte sich in Falten. Grimmig und abfällig blickte er auf sie herab. Was zur Hölle hatte er vor?
Es benötigt nur eine klitzekleine Bewegung meiner Finger, tagträumte sie, und das Messer tüncht seinen Hals blutrot.
Vielleicht konnte sie es sogar schaffen seine Kehle zu durchtrennen. Ihre Chance war gekommen! Und dieses Untier hatte sie ihr auf einem silbernen Tablett serviert.
Wer in dieser heruntergekommenen Welt überleben wollte, musste töten! Die Devise hieß: Töten oder getötet werden. Es gab nur die Rolle des Löwen oder der Antilope. Fehler rächten sich auf der Stelle. Und sie musste seinen Fehler ausnutzen oder drauf gehen. Wer Angst zeigte, starb! Wer zögerte, starb! Und sie zögerte bereits zu lange.
"Ich bin und bleibe eine Antilope.” Sie nahm die Hand herunter und suchte vergeblich nach einer Irritation, einer einzigen Regung auf seinem befremdlichen Antlitz. Er schien sie nicht zu verstehen. Sie erschrak als er ihr das Messer aus der Hand schlug.
Fehler rächen sich, schoss es ihr wie ein Blitz durch den Kopf, aber ohne Widerstand werde ich nicht untergehen.
Ihre Hände stemmten sich mit aller Kraft gegen seine Pranken. Die fehlende Nahrung raubte ihr jeglicher Stärke. Erfolglos kämpfte sie gegen dieses Untier an. Sie kam sich vor wie David, der gegen Goliath antrat. Dennoch siegte David mit Schläue. Geist über Materie! Doch die Einsamkeit hatte dem Wahnsinn zuviel Raum in den blumenkohlartigen Gängen überlassen. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Keine einzige Idee keimte in ihr auf, um sie mit Raffinesse aus dieser Misere heraus zu manövrieren.
"Jetzt hab ich dich, du Scheißkerl!” Eine dritte Person hatte unbemerkt die Arena betreten. Der menschenähnliche Kerl mit den Grün schimmernden Schuppen an seinem Körper flog herum und zog sie dabei auf sicheres Terrain fern ab vom Abgrund. Knurren und Zischen suchten sich den Weg zwischen seine dünnen Lippen hindurch. Er legte die Augen zu Schlitzen und fokussierte den Gegner, der an der Tür verharrte und einen Speer auf ihn richtete. Ein Mann! Ein Mensch! Erleichterung durchströmte sie wie Wärme.
So lange habe ich nach einem puren Homo Sapiens gesucht und nun steht er endlich vor mir, dachte sie aufgeregt. Tränen stiegen ihr in die Augen, doch ihr blieb nicht die Zeit sich einer Sentimentalität hinzugeben. Der Mann trat einen Schritt auf die befremdliche Kreatur zu und täuschte vor den Speer zu schmeißen. "Verfluchte Höllenbrut! Ich reiß dir das Herz aus dem Leib!” Ein erneuter Schritt in ihre Richtung folgte. "Dich an schwachen Frauen vergreifen - das kannst du.” Laut lachend hob er den Speer. "Aber jetzt musst du dich einem wirklichen Mann stellen!” Wieder tat er so, als wollte er die Waffe durch die Luft sausen lassen. Doch sie blieb in seiner Hand liegen.
Die Frau zuckte bei jedem vorgetäuschten Wurf zusammen, doch der schuppige Jäger behielt seine Maske der Ungerührtheit auf. Noch immer umkrallte er ihre Handgelenke.
Ich muss etwas unternehmen, forderte sie sich selbst auf, ich darf nicht länger wie angewurzelt teilnahmslos verharren.
Löwe oder Antilope. Jäger oder Gejagter. Blitzschnell trat sie nah an den Brustkorb ihres Kontrahenten heran und hob ihr rechtes Knie mit einer solchen Wucht, dass selbst die Glocken des Kölner Doms zerborsten wären. Ihr Angriff erzielte die gewünschte Wirkung. Der Jäger gab ihre Hände frei, fiel mit schmerzerfülltem Gesicht auf die Knie und krümmte sich.
"Lauf!” Der Mann mit dem Speer winkte die Frau hektisch heran. Sie rannte zur Tür und preschte die Treppenstufen hinunter, als wäre sie beim Stiertreiben durch die Straßen Madrids. Auch dieses perfide Spektakel hatte der Big Bang ausgelöscht.
Zu ihrer Verwunderung folgte ihr der Speerwerfer. "Hey! Willst du ihn nicht zur Strecke bringen?” "Ich bin doch nicht verrückt und trau mich nah an dieses Monster heran.” Er lachte peinlich berührt. "Lauf! Wir müssen fort sein, bevor er seinen Schmerz überwindet.” …]